Von den Brüchen (Balduin Winter)



Für Beta, Elke, Gaby, Susanne, Andreas und Nils

Marmorbruch Tre Fiumi, 18. Oktober 2013



Schnitte, fünf Meter, zehn Meter, scharfe, glatte Schnitte, gesägte Wände, senkrecht, im Überhang. Starke, zum Himmel strebende Linien. Oder nach unten. Himmel Hölle, dazwischen der Stein. Die Marmorwelt.

Steinbruch Tre Fiume, zerrissene Landschaft, Menschen arbeiten hier. Einer steht auf einer großen Platte, zentriert gelagert auf kleinen Steinen, so dass sie sich schaukeln lässt, auf, ab. Hart schlägt sie auf den Fels, widerhallendes Bongen. Eine bläst in ein Hartgummirohr wie in eine Trompete, singt dann hinein. Echo von den Wänden. Eine bemalt schwarz einen Felsblock, das schwarze Herz, schwarz auch die Wasserstürze an den glatten Abschnitten. Eine porträtiert ein Leidensgesicht auf eine Wand voller Sgraffiti. Von der höchsten Ebene des Bruchs ertönen Flötenklänge, alte Musik, Barock, ein Hauch lang vergangner Zeiten. Eine formt kleine Menschenfiguren aus Ton, platziert sie auf ein rostiges Stahlseil und in die Bruchspalten des Marmors, Wasseradern, Kältesprengungen, einige sind heraus und herunter gefallen. So ist das Leben. Einer spielt auf der E-Gitarre, schlägt dann mit einer Stimmgabel Glockentöne, Kalkstaub rieselt in den Adern des Bruchs. Einer klopft gegen ein gusseisernes Rohr, einer pfeift, eine ritzt Gravuren in feuchtschwarzem Grund, Haus Haus Mensch Banner. Der Bruch eine Bühne, eine Werkstatt des Versuchens, er vibriert von Aktionen, von Tönen, von Farben, von Zeichen, von Formen, von Wünschen nach Gestaltung.

Zehn Atemzüge, dann fällt wieder ein Wassertropfen. Von der Marmorkanzel. Hinunter in den Teich an der Sohle des Bruchs. So ist die Zeit. Wellenkreise bewegen das Spiegelbild glatt geschrämter Wände. Bevor das Abbild sich glättet, fällt der nächste Tropfen. Der sich wellende Schein. Auch die Wirklichkeit ist mehr als die Oberfläche des Augenblicks. Sie scheint alles zu sein: ein schwarzer Stein. Eine abgestürzte Tonfigur. Ein Schrei. Ein Flötenton. Ein Erinnern.

Ein Erinnern: An einen Ort, nicht weit entfernt vom Marmor, ein Ort zwischen Himmel und Meer. Die Felsenküste, hingeklammert zwischen Ewigkeiten und Vergessen. Augenblicke des Naheseins, des Glücks. Vergangne Geschichten.

Die gebänderten, gepressten Felsen der Cinque Terre. La Spezia, der Golf der Poeten. Das zerklüftete Hinterland der Alpi Apuane, seine weißen Marmorkämme. Die zahllosen Brüche. In der Landschaft, in den Menschen.

Auf dem Friedhof von Manarola in der Cinque Terre liegt eine Riccobaldi, geboren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, vor wenigen Jahren verstorben. Einer der Akteure in Tre Fiume hatte sie gekannt, sie war eine Rebellin aus der 1968er-Jugend der Küste, Mädchenname Pezzati. Er hatte auch ihren Vater gekannt, sehr flüchtig – dieser kam nur am Wochenend, er arbeitete als Steinmetz in den Brüchen oberhalb von Massa. Was er gelernt hatte, taugte nicht viel, für die großen Geräte und Seilsägen musste er eingeschult werden, schon damals wurde der Marmor maschinell gebrochen.

Die Küste selbst gab vor dem Touristenboom nicht viel her. Mühsal des Bergbauerntums, Wein, Kräuter, Kastanien, Gefahren des Fischfangs. Wer nichts erbte, ging meist nach La Spezia oder in die Marmorindustrie. Vielleicht hat dieser Pezzati hier in der Nähe von Tre Fiume gearbeitet, nach dem Tunnel von Arni beginnt die Region von Massa. Allerdings gibt es rund 150 Brüche.

Doch irgendwo, in dieser Gegend, in einem Bruch wie diesem, hat dieser Pezzati von der Cinque Terre im Gebirge gewühlt, hat Blöcke geschnitten. Wofür? Hat sich gegen Lohn verdingt, gearbeitet um zu leben. Unter Lebensgefahr, für Marmorpaläste. Für die Schönheit der Welt. Für Monumente, Villen, Kitschfiguren. Für sein Häuschen in Manarola, für seine Familie, für sein eignes, für ein paar andere Leben. Wie das eben so ist. Was man so Leben nennt. Leben. Dazu die vielen noch viel kleineren Dinge des Lebens: Heimat, Ehe, Krankenversicherung, Kirchensteuer.

Immer fällt der Tropfen, bevor das Spiegelbild ausgewellt ist. Die Sonne, auf Mittag hoch gestiegen, leuchtet und wärmt. Der Calcit strahlt. Manchmal ist es ganz still. Als ruhe die Erde. Als mache sie eine Atempause. Kein Puls. Bis zum nächsten Wassertropfen.

Flöten wimmern. Hallender Bass. Jemand pfeift ein altes italienisches Volkslied. Ach das Volk. Töne setzen sich zu einem Sound zusammen, harmonisch, atonal, lautmalerisch. Keine Weise, keine Melodie. Lange Laute, die etwas beginnen und jäh enden, ohne es zu beenden. Ein Fallenlassen. Ein Abreißen. Im Gewebe kein Muster. Pausen wie große Löcher. Ein zerfetzter Teppich. Risse wie Brüche. Das schwarze Herz. Herunter gefallene Tonfiguren.

Die Küste war rot, herzensrot. Das Marmorland auch, wer dort arbeitete, verstand zu kämpfen. Man beugte, außer vor Gott, nicht gerne das Haupt vor irgendeinem Herrn. An der Küste geschah viel Arbeit gemeinsam. Aus Notwendigkeit. Ohne große Theorien gründete man Kooperativen zum Bearbeiten der schwierigen Weinberge, für den Fischfang. Man kümmerte sich um jene, die nur die dunkle Seite des Mondes zu sehen bekamen, um jene, deren Männer auf dem Meer geblieben waren, um jene, deren Angehörige in den steilen Hügeln abgestürzt waren. Man stritt sehr viel und war sich doch einig. Viele wählten nach dem Krieg die Kommunisten, aber darum ging es nicht. Es ging um die Gemeinschaft.

Der Steinmetz Pezzati hatte einen älteren Bruder, Claudio. Dieser hasste schon Mussolini. Als dann die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Italien besetzten, hielt ihm nichts mehr daheim. Den fremden Herren musste er Widerstand leisten. Seinesgleichen trafen sich zu Tausenden in den Alpi Apuane, wo die deutsche Wehrmacht versuchte, gegen den Vormarsch der Amerikaner eine starke Linie, die Linea Gotica, aufzubauen, um Norditalien zu halten. Dagegen richtete sich der Widerstand der Partisanen, die in den unwegsamen Bergen und Bergdörfern ihre Stützpunkte errichteten. Dort konnten sie den Nazis am ehesten entgegen treten, dort hinauf ließ sich keine schwere Artillerie, kein schweres Gerät schleppen.

Hier kämpfte Claudio Pezzati von der Cinque Terre, hier verlor er im Kampf sein Leben. Er wurde 23 Jahre. Auf dem rostigen Seil des Lebens hochgestiegen, früh abgestürzt. Eine Gedenkplatte erzählt etwas von Heldentum. Auf einer Mauer in Seravezza hat jemand gesprüht: »Felice il popolo che non ha bisogno di heroi.« (Glücklich das Volk, das keine Helden braucht.)

Es tropft. Es wellt. Wenn es hier regnet, stürzen Wasserfälle über die Marmorwände. Schwärzen das Weiß. Schnell beginnt der geschnittene Stein zu verwittern. Eissprengung. Erosion. Was einst Marmorabbruch, minderer Marmor mit Porengängen oder auch nur weniger verdichteter Calcit, wird in zwei, drei Jahrhunderten wieder die unscheinbare Farbe und Struktur des Kalkes haben. Seine gesägten, polierten, gefügten Teile werden noch in Städten stehen, in nahen und fernen. Kirchen, Moscheen, Siegessäulen, Kriegerdenkmäler. Michelangelo suchte sich hier die Blöcke für seinen David, seine Pietà aus. Die faschistische Regierung ließ die Monumentalbauten des Foro Mussolini, heute Foro Italico, errichten. Kein europäisches Land, in dem nicht Paradebauten aus diesem Marmor stünden. Glanz einer Kultur der vielen Kriege. In der es üblich war, dass Menschen ihre Zeit nach den Kriegen bemaßen. Macht. Größe. Was zählt da ein Bauer, ein Steinmetz? Viel Platz für sie im schwarzen Herzen des Todes.

Kurvig und steil führt eine enge Straße von Pietrasanta in die Berge hinauf. Wie in einem Lift geht es in die Höhe, früher gab es nur Pfade. Grandios der Ausblick auf die Küste, das Meer. Dicht und dunkel der Parco Nazionale della Pace di Stazzema. Eine kleine Kirche, Denkmal zugleich. Ein langer, steiniger Kreuzweg. Ein Mahnmal, schlanker Turm vor dem Gebirge. Alles strebt nach oben. Dahinter eine Marmortafel: 560 Namen. Mit Altersangaben. Kinder. Frauen. Alte. Am 12. August 1944 überfiel die 16. SS-Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS« das mit Flüchtlingen überfüllte Dorf und massakrierte 560 Zivilpersonen. Nur wenige der Dorfbewohner überlebten, ihre Erinnerungen sind grauenvoll. Erinnern: erst sechzig Jahre später rollte die italienische Justiz das Verbrechen auf, die deutsche Justiz kann bis heute keine Schuldigen erkennen.

Darüber lässt sich nichts Rundes, Wohlformuliertes schreiben, da gibt es nur rohe Fakten zu berichten. So darf Leben nicht sein, so ist es. Voll Bruch, voll Zerstörung. Vor dem Ossarium zwanzig Granitsteine eines deutschen Bildhauers, Gesichter gemeißelten Leids, Feld des Erinnerns, ein Versuch des Versöhnens.

Pfeifen ertönt. Kieselsteine klickern auf Platten. Jemand schlägt gegen ein rostiges Rohr. Eine singt jenseits gewohnter Harmonien. Einer macht Knittergeräusche mit einer Plastikflasche. Lang gezogene Töne, dumpf, dunkel. Einer beginnt zu pfeifen. Eine pfeift zurück. Getriller, Jubilieren, Dialog. Flöte E-Gitarre. Fertig bemalt der schwarze Stein. Es geht lebhaft her im Bruch. Töne, Bewegung, Farbe, Zeichen, Formen, Licht und unendlich viel blauer Himmel darüber. Leben. Hier und jetzt. Alles Erinnern ist zweifelhaft. Alles Festhalten vergeblich.

Auch Worte. Flüchtige Zeichen, kommen, verändern sich, gehen. Deuten Bedeutung auflösen los. Manchmal können Menschen sich Nähe geben. Sehr unterschiedlicher Art. Mit besonderen Zeichen. Da bleibt dann etwas, für ein Leben. Kaum darüber hinaus. Hinaus gehen wir ebenso nackt wie hinein. Mit den Zeichen der Brüche. Trost suchend im Phantom eines guten Lebens.

Trotzdem wollen wir nicht vergessen. Sollen wir nicht? Weil wir sonst so wenig haben? Nur viele Brüche? Und immer noch tropft es und wellt es sich alle zehn Atemzüge. Und es verzerrt sich die Wirklichkeit, die vermeintliche. Auch das hört mal auf.